DAS GEGENTEIL VON DIGITALISIERUNG

EIN OBSOLETER VERSUCH
Der Titel des Artikels ist wie aus der Zeit gefallen und verloren. Es gibt keine Fragen dazu, und wenn doch, dann sind diese im Vorhinein beantwortet. Jeder Antwortversuch ist lächerlich, nicht zeitgemäß und erstickt im Keim.
Immer mehr Menschen wollen alles von und immer noch mehr an Digitalisierung haben und erleben. Es scheint obsolet zu sein, einen Artikel über das Gegenteil von Digitalisierung zu verfassen. Scheint es?
Das Gegenteil von Digitalisierung ist unattraktiv, altmodisch, überholt. In das analoge Zeitalter will keiner zurück. Keiner? Die Digitalisierung ist scheinbar so sozial, so gleichmachend, so ausgleichend, dass es keiner anderen Ausgleiche mehr bedarf. Wirklich keiner?
Alleine die Gegenüberstellung der heute so trendigen Digitalisierung zur nichtdigitalen Welt zeigt auf, wie schön die „Schöne neue Welt“ ist. Aldous Huxley verfasste seinen Roman über das zukünftige Glück der Menschen mit allen verfügbaren technischen Möglichkeiten bereits im Jahr 1932. Er konnte nicht wissen, um wie viel perfekter wir heute leben. Er konnte nicht wissen, um wie viel beschränkter wir heute leben.

DAS GEGENTEIL VON
Digitale Geschwindigkeiten bleiben als Allheilmittel unantastbar. Dass gute Gedanken oft langsam sind, gerät in Vergessenheit. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit bleibt Autoren wie Sten Nadolny vorbehalten. Das größer, schneller und weiter Denken steht ganz oben am Götzenaltar des modernen Menschen.
Die Anbetung der Künstlichen Intelligenz ist die Chance zur Auslagerung des eigenständigen Denkens. Die Abkehr vom eigenverantwortlichen Nachdenken und Bedenken ist für manche bequem. Ein bequemer Irrglaube. Die digitalen Kapitalisten reiben sich die Hände. Analoge Gedanken von echten Menschen bleiben auf der Strecke.
Die öffentlichen Volksvertreter und die öffentliche Meinung befeuern den digitalen Flächenbrand weiter und weiter. Zu allen Themen der Gesellschaft gibt es digitale Ideen und Errungenschaften. Ein iPad für jedes Schulkind, digitale Selbstveröffentlichungen ohne richtigen Verlag, digitale Daten mit unkontrollierten Zugriffen, digitale Signaturen, digitale Währungen, digitale Geschäfte, Hologramme als Gesprächspartner und vieles mehr.
Das höchste Ziel innerhalb der Digital-Kultur scheint es zu sein, es als Youtuber, Blogger oder Influencer zu schaffen. Das Andy Warhol-Zitat „In Zukunft wird jeder 15 Minuten weltberühmt sein.“ ist aktueller denn je.

DIGITALER ZEITGEIST
Wer digital vorne dabei sein will, fragt nicht nach dem Preis und den Auswirkungen der Volldigitalisierung. Die Trends der Zeit besitzen enorme Kraft. Niemand kann sich dem entziehen. Alle springen auf den digitalen Zeitgeistexpress auf, ohne zu fragen, wer den Zug wohin fährt. Mich hat noch nie interessiert in diesem Express zu sitzen. Ich lege vielmehr vorne die Schienen und bestimme den Kurs. Den analogen Kurs hin zu weniger Digitalisierung und mehr Menschlichkeit.
Digitale und aalglatte Welten schlagen scheinbar die altmodische und authentische Wirklichkeit im Beziehungsleben. Wofür die Digitalisierungsgläubigen Simon Sinek heute huldigen, wurde Falco vor gut zwei Jahrzehnten gehasst. Sinek beschreibt, wie Tinder und andere Systeme funktionieren und unser Beziehungsleben verändern. Falco sang über „Cyberlove“ im Internet: „Kein Bedarf an Emotionen. Virtuelle Erektionen …“ Damit erspürte Falco intelligent und kritisch, dass Beziehungsunfähigkeiten und Nichtemotionalitäten breiten Raum einnehmen.

ES GEHT VORAN
„Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran.“ – 1982 sang das die deutsche Band Fehlfarben. Wie recht sie hatte. Es geht enorm voran. Nur in welche Richtung bleibt fraglich.
„Fomo“ ist ein Zauberwort dafür. Die “Fear of missing out” beschreibt die zwanghafte Sorge eine Interaktion oder ein befriedigendes Erlebnis zu verpassen. Die Digitalisierung ist der wesentliche Treiber dieser Sorge.
In Japan werden überwiegend wasserdichte Handys verkauft. Japaner lieben es in der Dusche zu telefonieren. Ein faszinierender Trend. Vielleicht sollten wir auch öfter beim Schwimmen lesen?
Mittlerweile besitzen weltweit mehr Menschen ein Handy als eine eigene Zahnbürste. Mit einer Zahnpasta-App wird sich da noch vieles zum Guten wenden. Vermutlich.
Immer mehr Handynutzer leiden an „Ringxiety“, einem psychoakustischen Phänomen, bei dem man sein Handy klingeln hört, obwohl es nicht klingelt.
Mit „Nomophobie“ bezeichnet man die Angst nicht erreichbar zu sein. Ebenfalls eine digitale Krankheit unserer Zeit.
An was würden Sie den Zivilisationsgrad der Menschheit messen? An Hygienestandards? London hat 1858 mit dem Bau der Kanalisation begonnen. Seitdem ist diese Thematik weltweit geregelt. Aber 162 Jahre später haben auf unserem Planeten weniger Menschen Zugang zu einem WC als zu einem eigenen Handy.

GRETAS GEDANKENWELT
Ich muss nicht zwangsweise Greta Thunbergs Gedankenwelt teilen und meine Reisen per Segelboot und Zug absolvieren. Das, was uns Greta offenkundig macht, das, was ich extrem interessant finde ist, wie sie die politischen und wirtschaftlichen Eliten vorführt. Wie antwortlos staatstragende Personen, wie antwortlos Menschen in politischer und wirtschaftlicher Management-Verantwortung sind. Die Menschheit wählt und/oder bezahlt Leute, die sich von einer Jugendlichen vorführen lassen. Greta emotionalisiert unbestritten. Die Massen klopfen sich auf die Schenkel oder greifen sich an den Kopf. Wie lange noch?

WAS HEUTE MODERN IST
Ralf Hütter und seine drei Bandmitglieder von Kraftwerk füllen noch heute Hallen und geben „Wir sind die Roboter.“ zum Besten. Und noch nie lagen sie so sehr richtig damit.
Natürlich hoffen wir auf Pflegeroboter, digitalisierte Operateure, intelligente Verkehrssysteme und vieles andere. Alle diese wichtigen Entwicklungen bedeuten aber nicht, dass wir uneingeschränkte Digitalisierungsverehrer sein müssen und selbst zum Roboter werden.
Die Digitalisierung schwebt heute ohnehin in großer Gefahr. Was heute modern ist, beginnt morgen zu modern. Politiker kümmern sich mehr um ihre Likes als um die Sorgen und Probleme ihrer Bürger. Aber jenseits der digitalen Selbstgefälligkeit lauern analoge Wirklichkeiten.

DAS NEUE BIO
Meine Überzeugung: Analog ist das neue Bio. Alles, was wir nicht digitalisieren können wird unendlich wertvoll. Gefühle und Menschlichkeit lassen sich nicht digitalisieren. Der Mensch ist und bleibt die schönste und emotionalste aller Maschinen. Emotion lässt sich nicht herunterladen. Unser Leben ist keine App.
Im Kommunikationszeitalter erleben wir paradoxerweise einen Mangel an zwischenmenschlicher Kommunikation. Zwischen Bits, Bytes und Online sind wir oft genug allein. Irgendwann brauchen wir wieder mehr Gesichter, Stimmen und Persönlichkeiten. Wir brauchen etwas anderes. Etwas Reales: greifbar, spürbar, … oder eben nur ein Lächeln im Gesicht des Gegenübers.

ZU BEDENKEN BLEIBT
Es bedarf keiner Genialität, um zu erkennen, dass wir unsere Zeit nicht an die Digitalwelt verschenken oder verlieren sollen. Mehr und mehr steht deshalb in meinem Lebenszentrum: Ich habe keine hochtrabenden wirtschaftlichen Interessen. Ich habe primär menschliche Interessen. Die Digitalisierung macht ohnehin niemanden glücklicher.
Was ist vermutlich das größte digitale Glück? Ich habe keine Ahnung und es ist völlig irrelevant. Was ist vermutlich das größte Menschenglück? Meiner Einschätzung nach ist es das Privileg, das Leben nach eigenen analogen Vorstellungen leben zu können.
Wer will, kann unaufhaltsam sein Leben in die Digitalisierung und in das Internet verlagern. Für mich ist und bleibt analog endlos emotional und cool.

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Peter Baumgartner ist internationaler Unternehmensberater, inspirierender Redner und empathischer Coach.
Der Leadership- und Kommunikationsexperte überzeugt mit Erfahrung und ist zugleich am Puls der Zeit. Peter Baumgartner ist Vordenker, erspürt Trends und gibt seinen Vorsprung weiter. Er berührt emotional und rhetorisch.
Der Autor und Hochschuldozent, Wirtschaftsingenieur und Diplom-Pädagoge ist ein berührender und begeisternder Redner.
Peter Baumgartner macht Menschen und Organisationen zukunftsfähig. Seine Vorträge sind weltweit gefragt.
www.peterbaumgartner.at