Vielleicht heute Nacht schon

Die Digitalisierung und ihr Ende.
Die Realisierung und ihr Anfang.

Manager in Frankfurt, Manager in Wien, Manager in Zürich und Manager in Seattle. Und Manager sonst wo. Wenn sie kommen und sagen, wir sollen die Digitalisierung noch mehr verehren, dann …

WAS NIEMAND IN ABREDE STELLEN WIRD

Natürlich ist uns klar, dass künstliche Intelligenz tausende Textseiten extrem schnell durchsuchen kann und dem Rechtsanwalt oder Lektor hilft.

Natürlich glauben wir an Pflegeroboter und digitalisierte Operateure, die gebrechlichen und kranken Menschen wichtige medizinische Dienste leisten.

Natürlich hoffen wir auf intelligente Verkehrssysteme, die uns unfallfrei, günstig und schnell überall hinbringen.

Das alles und noch viel mehr an positiven und wichtigen Entwicklungen bedeutet aber nicht, dass wir Digitalisierungsverehrer sein und uneingeschränkt bleiben müssen.

EINE GRANDIOSE GESCHWINDIGKEITSSTEIGERUNG?

Die Digitalisierung erfordere ein rasches Umdenken. Es bleibe kaum Zeit und alles müsse in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit umgesetzt werden. Die Geschwindigkeit nehme immer weiter zu und die Belastungen seien hoch wie nie. Ist das wirklich so?

Doch vor rund 150 Jahren war die Situation ähnlich. Stefan Zweig beschrieb in „Das erste Wort über den Ozean“ die größte Geschwindigkeitssteigerung der Menschheit. Die Höchstgeschwindigkeit war lange der Lauf des Pferdes, das rollende Rad, das segelnde Schiff. Fortschritte hatten keine merkbare Beschleunigung herbeigeführt. Die Armeen Wallensteins kamen kaum rascher voran als die Legionen Cäsars, die Korvetten Nelsons durchquerten das Meer nur um weniges rascher als die Raubboote der Wikinger. Goethe reist im 18. Jahrhundert nicht wesentlich bequemer oder schneller als der Apostel Paulus.

Erst das 19. Jahrhundert veränderte das globale Tempo fundamental. Doch Eisenbahn und Dampfboot verfünffachen, verzehnfachen, verzwanzigfachen nur die damals bekannten Geschwindigkeiten.

Völlig unvermutet aber brechen die Leistungen der Telegraphie auf die Menschen ein. Ein elektrischer Funke überspringt Länder, Berge und durch die ersten Tiefseekabel ganze Erdteile. Der kaum zu Ende gedachte Gedanke, das soeben hingeschriebene Wort kann in derselben Sekunde schon tausende Kilometer entfernt empfangen, gelesen, verstanden werden.

Das war der Schritt zum Millionenfachen und Milliardenfachen der menschlichen Geschwindigkeit. Diese Umstellung des Zeitwertes und die psychologischer Wirkung ist unvergleichlich. Die Welt ist für immer verändert, seit es möglich ist, in Paris gleichzeitig zu wissen, was in Anchorage und Moskau, Boston und Sydney in derselben Minute geschieht. Reicht uns Geschwindigkeit allein? Viele entdecken etwas anderes.

DIE ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT

GESCHWINDIGKEIT VERPUFFT

Facebook hat die iPhone-Nutzung für ihre Mitarbeiter eingeschränkt. Diese denken nur in der Apple-Welt (IOS) und müssen mehr Android-Geräte nutzen. Nur so können die Mitarbeiter erleben, wie die meisten heute Facebook verwenden und so kann man Fehler der Software und Bedienung erkennen. Facebook hat aber nicht nur die Nutzung „eingebremst“, sondern auch die Geschwindigkeit.

Zuvor wurde der „2G Tuesday“ eingeführt, an dem Mitarbeiter ihre Handys mit langsamerer Geschwindigkeit nutzen müssen. Die Mitarbeiter sollen sehen, wie sich geringer Daten-Flow auswirkt und alles so gestalten, dass die Nutzung für Entwicklungsländer ideal möglich ist, denn Facebook kann nur mehr dort signifikant wachsen. Und dafür muss man die Geschwindigkeit zurücknehmen. Klingt unlogisch, wirkt aber: Weniger Digitalisierung für mehr Profit.

LANGSAME CONTAINERSCHIFFE UND LANGE SCHIENEWEGE

Die Seefracht von China nach Europa ist mit gedrosselter Geschwindigkeit unterwegs. Die Frachtzahlen und Umsätze sind bei weitem nicht so hoch wie gewünscht und wer langsamer fährt, verbrennt weniger Treibstoff. Das kann man dann an Digital-Displays auf der Brücke des Schiffes schön berechnen und ablesen. Rund zwei Mal schneller als Containerschiffe und günstiger als die Luftfracht sind Güterzüge. Die schnellsten von ihnen schaffen die Strecke China-Deutschland in zwölf Tagen. Aber ohne Digitalisierung wären die Züge auch nicht langsamer.

INTERKONTINENTALE FLUGZEITEN WIE VOR 1976

Seit Oktober 2003 ist es uns, nach Einstellung der Concorde-Flüge, nicht mehr möglich „richtig schnell“ über den Atlantik zu reisen. Die Flugzeit London–New York belief sich auf 2 Stunden und 52 Minuten. Heute überwindet ein volldigitalisiertes Flugzeug in 7 Stunden und 45 min diese Distanz. Es dauert also rund drei Mal so lange. Die Geschwindigkeit war kaum mehr finanzierbar und letztlich zu gefährlich.

SERVICE-REAKTIONSZEITEN STAGNIEREN ODER GEHEN ZURÜCK

Wenn wir an diese unvermeidlichen Service-Telefonnummern denken, die uns zugemutet werden, dann sind wir digitalgesteuert zum Aufenthalt im Wartesaal verdammt. Sie kennen die freundliche Ansage, wenn Sie das System nach 30 Minuten volldigitalisiert aus der Leitung wirft und Ihnen einen neuen Anruf vorschlägt. Zurück an den Start und tschüss Geschwindigkeit.

DIGITALISIERUNG IST NIEMALS ELEKTRIFIZIERUNG

Viele reden von „Digital“ und so manches Geschäftsmodell wird relativ simpel digitalisiert, indem man einfach vorne die sieben Buchstaben „digital“ oder hinten die Zahl 4.0 einfügt. Neue Technologien müssen aber mehr als das können, nämlich neue Angebote, Produkte und neue Geschäftsmodelle kreieren. Der vorherrschende Digitalisierungsanspruch treibt seltsame Blüten:

Wenn ein Konzern die Key Account Manager mit Tablets statt Bestellformular zu den Kunden schickt, dann … Wenn im Modeladen an der besten Adresse der Stadt Touch-Terminals statt Style-Berater die Kunden informieren, dann … Wenn das Glas der Schaufenster mit veralteten QR-Codes statt Ostereiern zugehängt wird, dann …

Dann ist das alles andere als Digitalisierung, sondern schlicht und einfach Elektrifizierung.

Wer nur Bestehendes digitalisiert oder gar elektrifiziert, wird es künftig schwer haben. Es geht vielmehr darum, digital zu transformieren und Neues zu erschaffen.

DIE FEHLEINSCHÄTZUNGEN DER DIGITALISERUNG

DIGITALSIERUNG IST ALLES UND DIGITALISIERUNG IST NEU?

Workplace 4.0, Banking 4.0, Produktion 4.0 und alles andere aus diesem Baukasten suggeriert, es handle sich hier um grundlegend neue Arten Dinge zu tun. Ist es wirklich vorrangig die Digitaltisierung, die Großartiges ermöglicht? Gibt es nicht schon lange Technologiesprünge, die Bestehendes optimieren, Branchen und Berufsbilder verändern?

 DIE IT STEHT IM FOKUS?

Neue IT-Ansätze, Cloud-Lösungen und digitale Produktindividualisierung sind nur in agilen Organisationen schnell umsetzbar. Starre Organisationsstrukturen scheitern alleine schon an der Technologie. Wer lieber ausdruckt und ablegt, kann auf die Technik der 80iger Jahre zurückgreifen oder gleich zusperren.

DIGITALISIERUNG ALS CHANGE?

  • Was derzeit in ist? Eine digitale Transformation von außen. Also der gezielte Einsatz von Start-Up-Unternehmen in Großkonzernen. Manche glauben die Digitalisierung als simples Change-Projekt starten zu können und rufen dann laut einen tollen Wandel aus. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Aber nach kurzer Zeit hat der Wandel dann seine Dynamik und wir benötigen plötzlich ganz viele neue Mitarbeiter, oder welche mit anderen Qualifikationen, oder eben gar keine mehr. Da fehlt also irgendetwas.

DIGITALISIERUNG VERLANGT NACH FÜHRUNG

Viele Etagen sind voll mit verdienten Führungskräften, die sich jahrzehntelang für eine Organisation eingesetzt haben, begehrenswerte Positionen einnehmen und gerade dadurch träge werden. Hierarchische Prozesse müssen aber durch wirtschaftliche Kollaboration und interdisziplinäre Zusammenarbeit ersetzt werden.

Die Digitale Transformation muss Top-down von der Geschäftsleitung initiiert werden. Auch wenn die tatsächliche Arbeit dann in den verschiedenen Abteilungen angestoßen und umgesetzt wird. Niemals darf unterschätzt werden, dass gravierende Umstellungen am Anfang langsamer laufen und wir es immer mit Menschen zu tun haben.

Wenn Ihnen die Digitalisierung so wichtig ist, dass Ihnen die Mitarbeiter egal sind, dann sind Sie keine Führungskraft. Dann sind Sie ein Verlierer.

ARBEITEN UND DIGITALISIERUNG

Die einen meinen, die Digitalisierung werde dazu führen, dass völlig neue Arbeitsplätze entstehen, die wir uns noch nicht vorstellen können. Die anderen fürchten das Ende der Arbeit. Diese werde zurückgehen und Berufe würden verschwinden. Die Dritten wissen noch gar nicht, was Sie denken sollen, sie ahnen aber, das Digitalisierung mehr Bildung und Qualifizierung benötigt.

BILDUNG UND DIGITALISIERUNG

Mehr und mehr werden einfache Tätigkeiten verschwinden. Die Zukunft gehört den hoch qualifizierten Berufen. Dem Bildungswesen fällt eine zentrale Aufgabe zu. Dabei geht es nicht um Techniken und die Nutzung von Smartphone oder Tablet. Es geht um den Umgang mit der Intelligenz der Vielen. Und es geht um Komplexität und Agilität.

DIGITALISIERUNG AN DER GRENZE

Sie wissen, wer gemeint sein könnte? Wir nutzen intelligente Cloud-Systeme, die den Terminkalender synchronisieren und Erinnerung zuordnen. Und dann kommt der notorische Zuspätkommer trotzdem zu spät.

Oder denken Sie an den freien Warenverkehr für freie Bürger in freien Wirtschafts- und Politiksystemen. In einem Europa, in dem die Grenzzäune eine Wiederauferstehung feiern?

FÜHRUNG IN DER DIGITALISIERUNG

Die Anziehungskraft von Industrie 4.0 und gewinnbringender Vernetzung scheint riesig zu sein. Wer will noch Menschen erfolgreich führen? Wenn wir aber heute Leistung verlangen und fordern, müssen wir anderen vor allem Sinn bieten können. Führung bleibt also unser wichtigstes Handlungsfeld.

Erfolgreich sind jene Unternehmen, die sich mit den „digitalen“ Führungseigenschaften beschäftigen. Erfolgreich sind jene Führungskräfte, die den Menschen Orientierung bieten. Interessant sind zunehmend Führungskräfte, die die Fähigkeit haben, Menschen in der Organisation zu halten bzw. neue Menschen für die Organisation zu gewinnen. Die oft so grenzenlosen Generationen Y und Z führen ihrerseits die Wirtschaft an ihre Grenzen. Es bleibt spannend.

DIGITALISIERUNG BRAUCHT KULTURWANDEL

Digitalisierung ist viel weniger Technologie und vielmehr Kultur als jemals erhofft. Das ist gut so. Das ist die Umkehr. Das ist der Weg hin zu den Soft Skills: Soft Skills sind die harte Währung der Zukunft.

 Soziale Kompetenz lässt sich nicht digitalisieren.

Führungskompetenz lässt sich nicht digitalisieren.

Technik und Sachkompetenz allein sind zu wenig für eine neue Kultur. Die Kultur des Unternehmens und der Umgang mit den Menschen im Unternehmen lassen sich nicht digitalisieren. Je früher wir diese Gedanken zulassen, desto eher werden wir Erfolg haben.

DIE ÜBERFORDERTE DIGITALISIERUNG

EINE VERHEERENDE KOMBINATION

Warum soll ein Teilaspekt des Wirtschaftens alle anderen Aspekte überflügeln, aus der Verantwortung und dem Rennen nehmen? Unsere Antwort auf die globalen Herausforderungen kann ja nicht eine Kombination aus Digitalisierung und einer möglichst billigen Arbeitskraft sein, sondern nur der intelligente und motivierte Mensch.

DIE EINZIGE UNTERSCHEIDUNGSMÖGLICHKEIT

Wir haben in Deutschland, Österreich und in vielen Ländern der EU einen relativen Gleichstand an technologischen Standards. Generell räumen wir der Technologie schon bisher viel Platz ein. Die einzige Unterscheidungsmöglichkeit am Markt ist aber das Verständnis unseres Menschseins, das ist das allergrößte Zukunftspotential.

Die einzig gültige Währung für Ihre Zukunft: Die Gehirne der Mitarbeiter.

LEBEN IN DER DIGITALISERUNG

Mit den Millenials gibt es erstmals eine ganze Generation, die in einer Smartphone-Internet-FB-Instagram-Welt groß geworden ist. Die Mitglieder dieser Generation legen perfekt einen Wunschfilter über Dinge. Sie zeigen nahen und ganz fernen Menschen wie toll das Leben ist, selbst dann, wenn sie selbst deprimiert sind. Die Millenials (und andere) fühlen sich gut, wenn eine Nachricht eintrudelt. Darum zählen wir täglich unsere Likes.

Viele wissen nicht, wie man Beziehungen aufbaut. Sie geben zu, dass ihre Freundschaften oberflächlich sind und sie sich nicht auf sie verlassen können.

Wenn Millenials Stress haben, wenden sie sich nicht an einen Menschen, sondern an ein Gerät, das ständig verfügbar ist. Alles geht schnell und leicht. Um ein Date zu bekommen, muss man nicht einmal mehr lernen, wie man eine Person anspricht. Einfach am Handy nach rechts wischen.

Alles, was man will, kann man sofort haben, außer Befriedigung im Job und starke Beziehungen. Dafür gibt es keine App. Und wird es niemals eine geben.

 ANALOG IST DAS NEUE BIO

ZU WENIG. ZU SPÄT.

Die Grundangst vieler Organisationen ist es, ja nicht zu wenig für die Digitalisierung zu tun und keinesfalls zu spät dran zu sein. Aus diesem Gedränge heraus lässt sich das Ganze sicher nicht positiv angehen. Was haben Sie bislang in der analogen Welt geschafft? Wo stehen Sie? Wo wollen Sie hin? Das lässt sich doch lösen!

SCHRECKLICH ANALOG

Wir Menschen sind ohnehin schrecklich analog. Mitarbeiter sind zu 100% Menschen und Kunden sind auch zu 100% Menschen. Wenn wir dementsprechend agieren, sind wir auf einem guten Weg.

Die größten Durchbrüche im 21. Jahrhundert werden nicht durch die Technologie errungen, sondern durch das erweiterte Verständnis unseres Menschseins. –  John Naisbitt

CREDO: REALISIERUNG

Von den großartigen Chancen der Digitalisierung bleibt ohne Realwirtschaft wenig übrig. Das Programmieren von Apps wird die bestehende Wirtschaftswelt niemals ablösen. Jede Digitalisierungsform baut auf unserer Infrastruktur auf.

Fragen wir uns einmal, welche App Güter von A nach B transportiert, Ihre Sträucher schneidet, Ihr Auto wäscht und welche App Ihre Wohnungen einrichtet?

Was passiert, wenn alles mit Apps aus der Ferne gelöst wird? Was passiert, wenn reale und kommunale Wertschöpfung ausbleibt und dadurch Geld für Infrastruktur fehlt? Was passiert, wenn wir nach einem Wasserrohrbruch merken, dass auf der Installateur-App kein Installateur mehr zu finden ist?

Wir merken, dass die Digitalisierung unweigerlich an ihre Grenzen stößt, denn zwischen Bits, Bytes und Online sind wir oft genug allein. Irgendwo ist, unglaublich aber wahr, das Ende des Internets. Irgendwann brauchen wir wieder mehr Gesichter, Stimmen und Persönlichkeiten. Wir brauchen etwas anderes. Etwas Reales: greifbar, spürbar, … oder eben nur Schweiß auf der Stirn.

Wir müssen heute den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Digitalisierung ohne den Anspruch einer Realisierung ist schlichtweg nichts. Es geht darum, Menschen und Ereignisse positiv zu beeinflussen.

DURCH DIE DIGITALISIERUNG AN SICH WIRD NIEMAND GLÜCKLICHER

Die Entkopplung der realen Wirtschaft von der digitalen Transformation schafft gefährliche Lücken im System. Wenn wir nicht klar gegensteuern und wissen, dass sich gewisse Kompetenzen und Tätigkeiten nicht digitalisieren lassen, dann werden wir zu Verlieren.

Das wird passieren. Morgen. Morgen vielleicht. Vielleicht heute Nacht schon. Vielleicht heute Nacht, wenn – wenn wir nicht andere Wege und Zugänge finden.

© Dipl.-Päd. Ing. Peter Baumgartner

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Peter Baumgartner ist Dipl.-Pädagoge und Wirtschaftsingenieur, Hochschuldozent und Wirtschaftsliteraturpreisträger. Er beschäftigt sich in seinen Büchern und Vorträgen mit „Mut machen und Motivation“, „Leadership und Innovation“. Peter Baumgartner berät Unternehmen zukunftsfähig zu werden. Er macht Menschen mit Vortrags-Coaching und Medientraining noch souveräner.