FÜHRUNG AUF SINN ZU REDUZIEREN, GREIFT ZU KURZ

Vom partizipativen Führungsstil bis zu komplett hierarchiefreien Unternehmen ohne Vorgesetzte — im Selbstverständnis vieler Führungskräfte hat autoritäres Führungsverhalten keinen Platz mehr. Dafür zählen Kommunikationsstärke und die Fähigkeit, Mitarbeitende zu begeistern, umso mehr. Was eine gute Leaderin oder einen guten Leader sonst noch ausmacht, weiss der Unternehmensberater Dipl.-Päd. Ing. Peter Baumgartner. Im Gespräch erklärt der gebürtige Österreicher, der auch als Redner, Hochschuldozent und Autor tätig ist, welche Führungskompetenzen heute und zukünftig gefragt sind, wie sinnstiftendes Leadership gelingt und warum ein ehrliches Interesse an Menschen für die Führungsarbeit essenziell ist.

Interview geführt von Dave Husi
personalSCHWEIZ Juni 2021

Welche Führungskompetenzen müssen die Leader von heute und morgen mitbringen?

Lange war «Sinn vermitteln» allgegenwärtig. Immer wieder ging es nur um das grosse «why». Das habe ich sehr skeptisch gesehen. Sinn ist sehr individuell und hat viele Ausprägungen. Führung auf Sinn zu reduzieren, greift mir zu kurz. Kann wirklich jede Arbeit Sinn machen? Ich habe also «Sinn» weiter und breiter gedacht und bin bei Zuversicht angekommen. Zuversicht bedeutet für mich, zukunftsfähig zu sein und mehr als Mensch und weniger als Maschine zu denken und zu agieren. Zukunftsfähigkeit bedeutet keinesfalls das, was uns manche Zukunftsforscher einreden möchten. Es bedeutet nicht, vermuteten Trends hinterherzulaufen. Zukunft geht anders. Erfolgreiche Leader besitzen die richtige Einstellung – sie warten nicht, bis sie der Markt, die Mitbewerber oder die Kunden vor neue, unlösbare Aufgaben stellen. Zukunftsfähig sind jene, die in die Zukunft investieren. Es gilt, das Morgen besser zu gestalten als das Heute. Führungskräfte sind Vorreiter der Zukunft.

Welche Eigenschaften sind bei Führungskräften heute im Vergleich zu früher weniger gefragt?

 Weniger gefragt sind, oder besser, noch nie gefragt waren: autoritäres Gehabe gepaart mit Selbstgefälligkeit, Führungskräfte, die glauben, allwissend zu sein, und Mikromanagement-Denken.

Autoritäre und unnahbare Vorgesetzte sind zwar auch heute noch in Unternehmen anzutreffen. Es ist jedoch ein Wandel hin zu kollegialem Umgang zu beobachten. Werden Führungskräfte zukünftig weniger Befehlsgeber sein, sondern eher die Rolle eines Coachs übernehmen?

 Es ist höchste Zeit, Autorität und Unnahbarkeit aus den Führungsetagen zu verbannen. Ich bin aber der Meinung, dass nicht jede Führungskraft die Möglichkeit hat, als Coach zu agieren. Sich den gesunden Menschenverstand zu bewahren und den Wandel zu umarmen, finde ich interessant. Ich erhoffe mir Emotionen und die Fähigkeit, die einzelnen Mitarbeiten vom «Ich zum Wir» zu führen. Es gibt im Sport unzählige Beispiele, wie es gelingt, aus einer Mannschaft ein Team zu machen.

Seit über einem Jahr arbeiten viele Menschen im Homeoffice. Eine Herausforderung für Führungskräfte. Was braucht es, damit Führung auch in der Remote-Work-Situation funktioniert?

 Die aktuelle Situation ist unbestritten ein Beschleuniger. Sie zwingt Unternehmen, ihre Prozesse auf den Prüfstand zu stellen. Mittlerweile kann fast jedes Unternehmen virtuell zusammenarbeiten. Zu den wichtigsten Führungsaufgaben in virtuellen Teams zählen das Vertrauen, welches abhängig ist von der Zeitspanne der Zusammenarbeit, und Kommunikation. Im Bereich der Kommunikation sollte Raum sowohl für offene Team-Meetings wie auch für Vieraugengespräche geschaffen werden. Punkto Arbeitsabläufen ist wichtig, dass diese vom Team angenommen und unterstützt werden. Und schliesslich liegt es auch in der Verantwortung der Führungsperson, die Teamentwicklung zu unterstützen, indem Konflikte und Wahrnehmungsunterschiede besprochen und gelöst werden.

Im Homeoffice-Kontext rücken Vertrauen und Kontrolle, wie Sie bereits angetönt haben, noch mehr ins Zentrum. Eine lückenlose Kontrolle ist durch die physische Distanz sowieso nicht möglich. Wie wichtig ist Vertrauen generell bei der Führungsarbeit?

 Eine wichtige Kompetenz ist für mich, Schnelligkeit durch Vertrauen zu erlangen. Gemeinsamkeit ist ein weiterer Faktor, der jetzt wichtiger ist denn je. Menschen wollen dazugehören. Es braucht eine Arbeitsumgebung, die Kollaboration ermöglicht. Es braucht also vor allem Führungskräfte, die Kollaboration ermöglichen. Egal, ob im Einzelbüro, im Grossraumbüro oder im Homeoffice. Wenn die Menschen vertrauensvoll zusammenarbeiten, ist die physische Distanz zweitrangig.

Sie haben zuletzt den Begriff «Zugehörigkeit » in die Führungswelt eingeführt und in Ihrem neuesten Buch behandelt. Was ist Ihnen daran so wichtig? Warum müssen Organisationen auf Zugehörigkeit setzen?

 Zugehörigkeit steht im Fokus fortschrittlicher Führungskräfte. Wenn sie es schaffen, Zugehörigkeit und Bindung auszulösen, generieren sie einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Gute Leute sind knapp und werden immer knapper. Unternehmen müssen sich mehr um die Bedürfnisse der Mitarbeitenden kümmern. Das klassische Dreigestirn aus Kommunikation, Empathie und Wertschätzung hilft, Mitarbeiterbedürfnisse zu erkennen. Die Zuteilung von Aufgaben, Rollen oder Positionen bindet Mitarbeitende positiv in der Gruppe. Das Bildlogo auf der Dienstkleidung macht Mitarbeitende im Idealfall stolz. Denken Sie z.B. an die legendären Pan-Am-Uniformen und -Taschen. Die Zugehörigkeit ist die Basis für die gegenseitige Sympathie und Kooperationsbereitschaft der einzelnen Mitglieder. Durch Zugehörigkeit entstehen der Teamgedanke und das starke Gefühl von Zusammengehörigkeit, Loyalität und Gruppenidentität.

Mitarbeitende, die schon seit Beginn der Pandemie nur im Homeoffice arbeiten, verlieren teilweise die Freude an ihrer Arbeit, da physische Treffen mit Arbeitskolleginnen und -kollegen komplett weggefallen sind. Wie können Führungskräfte die Mitarbeitenden wieder motivieren?

 Für Führungskräfte bedeutet Homeoffice einen Kulturwandel. Die Anwesenheitskultur wird zum Auslaufmodell, das Vertrauen in die Mitarbeitenden ist angesagt. Führungskräfte müssen verstehen, dass Zeit nicht gleich Leistung ist. Unternehmen müssen als Konsequenz daraus Kompetenzen aufbauen, um virtuelle Mitarbeitende einzubinden und zu führen. Durch Regelmeetings, Rituale und auch Zielvorgaben bleiben die Mitarbeitenden nahe am Unternehmen. Zukunftsfähige Führungskräfte besitzen ein positives Menschenbild und ein niedriges Kontrollbedürfnis. Sie schaffen es, mit ihren Mitarbeitenden realistische Ziele zu vereinbaren und ihnen konstruktives, förderndes Feedback zu geben. Zudem motivieren sie durch gute Kommunikation.

Wie kann HR die Führungskräfte dabei unterstützen?

 Ich möchte Ihre Frage gerne erweitern. Wie kann HR das gesamte Unternehmen unterstützen? Es geht mir um eine Erkenntnis: HR muss in den Unternehmen dringend aufgewertet werden! Nach meiner Erfahrung ist HR in vielen Unternehmen immer noch falsch angesiedelt, nämlich als Beiwerk. Personaler sind keine Hilfskräfte, sondern die Leute, welche die wertvollste Ressource verantworten. HR macht eine grossartige Arbeit, aber es ist nun mal so, dass der Nutzen wenig messbar ist. Es wird auch immer noch zu wenig über die Bedeutung von HR gesprochen. So nehme ich es jedenfalls wahr, wenn ich für Vortragsthemen oder Beratungsmandate angefragt werde. HR braucht aber auch ein neues Selbstverständnis und sollte sich nicht auf Digitalisierung und Agilität reduzieren. HR muss sich darauf konzentrieren, was den Menschen ausmacht. Gefühle und Menschlichkeit lassen sich nicht digitalisieren. In Zukunft werden analoge Kompetenzen unendlich wertvoll sein, und HR sollte das Beste aus beiden Welten zusammenführen.

Menschen wünschen sich im Arbeitsleben eine sinnvolle Aufgabe, die sie erfüllt. Wie können Führungskräfte dazu beitragen, dass dies gelingt? Oder anders gefragt: Wie gelingt sinnstiftendes Leadership?

 Wir haben heute zu unterschiedliche Generationen in den Unternehmen, um diese «Sinnstiftung» simplifizierend beantworten zu können. Führung und Sinn kann man nicht herunterladen. Nicht für die älteren und auch nicht für die jüngeren Generationen. Wir dürfen die Digitalisierung nicht übertreiben und müssen mehr auf analoge Kompetenzen setzen. Junge Talente wollen Lebensqualität und Mitsprache im Job. Junge Menschen müssen anerkennen, dass es auch ein Leben vor Tablet und Smartphone gab. Die älteren Generationen haben vieles ohne diese Errungenschaften geleistet. Wenn auch die Antwort auf viele Fragen online zu finden ist, die Jugend sucht nach echten Vorbildern. Da sind die älteren Generationen gefragt. Führungskräfte haben eine verbindende Funktion. Sie kennen die alten Werte, müssen aber auch auf die Wünsche der jüngeren Mitarbeitenden eingehen.

Eine positive Unternehmenskultur ist ein wichtiger Faktor für die Mitarbeiterzufriedenheit. Welchen Einfluss hat die Führungskultur auf die Unternehmenskultur?

 Kultur überwindet Unternehmensgrenzen und Krisen. Das brauchen wir dringender denn je. Eine Unternehmenskultur muss Zuversicht beinhalten. Gerne borge ich bei Peter F. Drucker: «Kultur isst Strategie zum Frühstück und Technologie zum Mittagessen.» Eine zukunftsweisende Unternehmenskultur ist wichtiger als eine ausgefeilte Strategie oder Technologie. Kultur ist die Basis für Veränderung oder für Stillstand. Sie kann positiver Beschleuniger oder Verhinderer sein. Eine Organisation, die sich nicht selbst transformieren kann, ist auch nicht in der Lage, ihre Produkte und Dienstleistungen zu transformieren. Unternehmen, die den Kulturwandel zur «Chefsache» machen, können Veränderungen besser umsetzen. Führungskräfte begeistern ihre Belegschaft wirksamer, wenn der Wandel «von oben» vorgelebt wird. Motivation lebt von der Vorbildwirkung. Diese ist der einzige Ansatz, Menschen zu motivieren und Veränderungen anzustossen.

Durch die Krise sind viele Unternehmen zum Umdenken ihrer Prozesse gezwungen worden. Veränderungen lösen vielfach Angst bei den Betroffenen aus. Wie können Führungskräfte darauf angemessen reagieren?

 Die Menschen erkennen, dass Führungskräfte in Wirtschaft und Politik nicht allwissend sind. Selbstgefälliges Verhalten und Oberflächlichkeit bringen uns in der Veränderung nicht weiter. Eine gute Führungskraft kümmert sich um ein gutes Unternehmensklima. Eine gute Führungskraft kann Menschen um sich scharen und begeistern. Wir bemerken je länger, je mehr, dass die Menschen ihren Arbeitsplatz und ein gesichertes Einkommen schätzen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer rücken näher zusammen. Ich bin sehr positiv eingestellt und denke, dass die aktuelle Zeit verbindend wirkt und Führungskräfte am besten das gegenseitige Zugehörigkeitsgefühl verstärken.

Zum Schluss: Durch Ihre Tätigkeit als Speaker und Seminardozent sind Sie im ganzen DACH-Gebiet unterwegs. Welche Unterschiede in Bezug auf Führungsmentalität gibt es? Führen Schweizer z.B. anders als Österreicher?

 Generell möchte ich nicht kategorisch über die Führungsmentalität der Schweizer urteilen. Ich bin einfach sehr gerne in der Schweiz tätig und erlebe bei Ihnen immer eine grosse Offenheit und ein starkes Interesse. Vielleicht auch, weil ich das «Schwyzerdütsch» und die Menschen mag, erlebe ich den Umgang mit Führung und mit Zukunftsthemen in der Schweiz als weltoffen und am Puls der Zeit.