LEADERSHIP IN DER VIRTUELLEN ARBEITSWELT

In der Krise zeigt sich nicht nur der Charakter von Menschen, sondern auch die Kultur von Organisationen. Leadership und Digitalkompetenz sind dabei unverzichtbar. Wie Führungskräfte mit flexiblen Arbeitswelten, virtuellen Teams und anderen neuen Herausforderungen richtig umgehen.

Ich plädiere dafür, bei der permanenten Dramatisierung der heutigen Zeit nicht mitzumachen. Denn Geschwindigkeitssteigerungen gab es schon immer, die gewaltige Dynamik und der permanente Wandel sind nicht neu. Diesen Wandel hätten wir in den 1970er Jahren, in den 1920er Jahren oder auch schon in der Hochphase der Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts genauso wahrgenommen.
Heute springen aber alle enthusiastisch auf den digitalen Zeitgeistexpress auf, ohne zu fragen, wer den Zug wohin fährt. Mich hat es noch nie interessiert, in diesem Express zu sitzen. Ich lege vielmehr vorne die Schienen und bestimme den Kurs. Den Kurs in Richtung weniger an digitaler Scheinwelt und überbordendem Technologiekult, dafür mehr an wertschätzender Führungskultur und Menschlichkeit in der Wirtschaft.

Analog ist das neue Bio

Das Katapult für die aktuellen Entwicklungen hat einen Namen: Die Möglichkeiten und Einsatzgebiete der künstlichen Intelligenz sind zahllos, die wirtschaftlichen Prognosen vielversprechend. Mit den Chancen dieser Technologie gehen aber auch Risiken und ethische Fragestellungen einher: Einerseits geben Tech-Giganten wie Google vor, dass KI nötig ist, um globale Katastrophen wie den Klimawandel, Krebs und Hunger zu bekämpfen. Auf der anderen  Seite begreifen Vorreiter wie Elon Musk und Bill Gates sie mittlerweile als größte Bedrohung der Menschheit.
Natürlich ist uns klar, dass künstliche Intelligenz Tausende Konten extrem schnell durchsuchen kann und uns dadurch enorm hilft. Natürlich glauben wir an Pflegeroboter und digitalisierte Operateure, die wichtige medizinische Dienste leisten. Natürlich hoffen wir auf intelligente Verkehrssysteme, die uns unfallfrei und schnell voranbringen. All diese positiven Entwicklungen bedeuten aber nicht, dass wir blinde Digitalisierungsverehrer sein und uneingeschränkt bleiben müssen. Vordigitale Zeiten, Digitalisierung an sich und Postdigitalisierung sind kulturgeschichtliche Stationen – nicht mehr und nicht weniger.
Immer mehr Menschen und Unternehmen wollen immer mehr an Digitalisierung haben und einsetzen. Das Gegenteil von Digitalisierung ist unattraktiv, altmodisch, überholt. In das analoge Zeitalter will keiner zurück. In allen Feldern der Gesellschaft gibt es digitale Errungenschaften: ein iPad für jedes Schulkind, unkontrollierte Datenzugriffe, digitale Währungen, digitale Geschäfte, Hologramme als Gesprächspartner und vieles mehr. Die Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft, auf Freizeit und Berufsleben sind enorm. Was bedeutet das für Organisationen, was für die Führung?
Top-Leistungen am Arbeitsplatz verschmelzen mehr und mehr mit Lebensqualität und Freizeitkultur. Im Kampf um frische Talente setzen immer mehr Unternehmen auf neue Arbeitszeitmodelle, die es erlauben, Arbeit und Privatleben in Einklang zu bringen. Nur wer die Bedürfnisse der jungen Generation ernst nimmt, wird zukünftig wirtschaftlich vorne dabei sein. Unternehmen erwarten von Mitarbeitern mehr Flexibilität. Mitarbeiter erwarten von Unternehmen zeitgemäße und flexible Modelle. Das klingt eigentlich logisch und einfach.

Die flexible Arbeitswelt

Viele Unternehmen verstehen noch immer nicht, welche Kraft in flexiblen Arbeitszeiten und ebensolchen Anwesenheiten liegt. Hier prallen seit jeher Welten aufeinander. Die Trägheit des Systems war lange schwer aufzubrechen, bis dieses kleine Virus – ausnahmsweise war es kein Computervirus – mit riesigen Auswirkungen die Wirtschaft lahmlegte. Plötzlich waren Flexibilität und Homeoffice angesagt. Die Langzeitwirkung des Effekts bleibt abzuwarten.
Wer heute flexible Arbeitszeiten und Homeoffice ablehnt, entledigt sich damit auch gleich der jungen Talente. So achtet die junge Generation darauf, wo sie zu welchen Bedingungen einsteigt. Die Möglichkeit auf Homeoffice spielt für sie eine entscheidende Rolle. Flexibilität ist für diese Altersgruppe ein wesentliches Arbeitgeberkriterium. Ohne diese Möglichkeit würde fast die Hälfte einen Job nicht annehmen. Anwesenheitspflicht macht Arbeitgeber also unattraktiv.
Die unterschiedlichen Modelle der Arbeitswelt haben aber jeweils spezifische Vor- und Nachteile:
» Flexible Arbeitszeiten: Die klassische Kernarbeitszeit verliert an Relevanz. Die gesteigerte Flexibilität der Arbeitswelt betrifft viele Unternehmen, Gleitzeit ohne Kernzeit wird immer beliebter. Die daraus resultierende Vertrauensarbeitszeit setzt ein hohes Maß an Eigenverantwortung und eine entsprechende Unternehmenskultur voraus. Eine Studie der Universität Washington zeigt, dass Anwesenheitspflicht nicht produktiver macht und nur das Mikromanagement fördert. Die Zufriedenheit ist bei freier Zeiteinteilung höher.
» Anwesenheit: In manchen Berufen ist eine Anwesenheitspflicht obligatorisch. Köche, Installateure oder Chirurgen schaffen es wie viele andere keinesfalls, im Homeoffice zu arbeiten. Rund 40 Prozent aller Berufe könnten aber von zuhause aus erledigt werden. Nach wie vor gilt die Anwesenheit als Indikator für Loyalität und Leistungswillen. Hier ist ein Umdenken gefordert.
» Homeoffice: Inwiefern Beschäftigte im Homeoffice arbeiten können, hängt vom Digitalisierungsgrad des Arbeitgebers ab. Homeoffice heißt nicht strukturloses Arbeiten. Durch Regelmeetings, Rituale und auch Zielvorgaben bleiben die Mitarbeiter nahe am Unternehmen. Eine Studie aus Stanford beweist, dass das Arbeiten von zuhause die Produktivität signifikant steigert. Studienteilnehmer klagten jedoch über Isolation, zugleich leisten sie eher unbezahlte Mehrstunden. Eine Mischung aus Büroalltag und Homeoffice ist ideal.
Für Führungskräfte bedeuten flexible Arbeitszeiten und Homeoffice einen Kulturwandel: Die Anwesenheitskultur wird zum Auslaufmodell, Vertrauen in die Mitarbeiter ist angesagt. Führungskräfte müssen verstehen, dass Zeit nicht gleich Leistung ist. Unternehmen müssen als Konsequenz daraus Kompetenzen aufbauen, um virtuelle Mitarbeiter einzubinden und zu führen.

Neu digitale Führungswelt

Das Arbeiten in virtuellen Teams bringt Vorteile und Risiken mit sich. So können Mitarbeiter mit einem hohen Grad an Eigenorganisation flexibel und ortsunabhängig zusammenarbeiten. Virtuelle Teams sparen Mobilitätskosten und optimieren die Zeitressourcen. Ein virtuell geführtes Team ist aber abhängig von der Kommunikationstechnologie. Ein mangelndes oder fehlendes Feedback durch die Führungskraft ist ebenfalls ein Nachteil. Vorteile von „Distance Leadership“ sind jedenfalls:
» erhöhte Selbstständigkeit der Mitarbeiter
» neue Anreize
» mehr Vertrauen
» weniger Mitarbeiterfluktuation
» strukturierteres Arbeiten
Zukunftsfähige „virtuelle“ Führungskräfte besitzen ein positives Menschenbild und ein niedriges Kontrollbedürfnis. Sie schaffen es, mit ihren Mitarbeitern realistische Ziele zu vereinbaren und ihnen konstruktives, förderndes Feedback zu geben. Zudem sind sie gute Kommunikatoren und vertraut mit modernen Kommunikationstechnologien. Die wichtigsten Führungsaufgaben in virtuellen Teams sind:
» Vertrauen: abhängig von der Zeitspanne der Zusammenarbeit und Kommunikation
» Kommunikation: offene Team-Meetings und Vieraugengespräche
» Arbeitsabläufe: müssen vom Team angenommen und unterstützt werden
» Teamentwicklung: Auflösen von Konflikten und Wahrnehmungsunterschieden
Führungskräfte sind Vorreiter der Zukunft. Niemand muss sich so sehr mit der Zukunft auseinandersetzen wie sie. Gerade in digitalen Zeiten ist die Fähigkeit, Menschen für ein Unternehmen, ein Team oder eine Aufgabe zu gewinnen, existenziell wichtig.

Was bleibt und was kommt?

Was nach der Digitalisierung kommt? Hierzu mangelt es an Vorstellungsvermögen und -willen. Derzeit sind wir dermaßen durchdigitalisiert, dass wir uns eine Zeit mit weniger Digitalisierung nicht vorstellen wollen und können. Die Hoffnung aber lebt. Die Digitalisierung schwebt in großer Gefahr. Was heute modern ist, beginnt morgen zu modern. Jenseits der digitalen Selbstgefälligkeiten lauern analoge Realitäten für die Wirtschaft.
Der Mensch braucht Kommunikation und Kultur. Im Kommunikationszeitalter erleben wir paradoxerweise einen Mangel an zwischenmenschlicher Kommunikation. Zwischen Bytes, Bits und Online sind wir oft genug allein. Irgendwann brauchen wir wieder mehr Gesichter, Stimmen und Persönlichkeiten. Wir brauchen etwas anderes, etwas Reales – greifbar, spürbar. Oder eben nur ein Lächeln im Gesicht des Gegenübers.
Das analoge Verhalten wird unendlich wertvoll, Führung kann darauf niemals verzichten. Gefühle und Menschlichkeit lassen sich nicht digitalisieren. Der Mensch ist und bleibt die schönste und emotionalste Maschine. Und übrigens: Der Mensch programmiert die Maschine, nicht die Maschine den Menschen. Digitale Führung ist viel weniger Technologie und viel mehr Kultur als jemals erhofft. Das ist gut so. Das ist die Umkehr. Das ist der Weg hin zu den Soft Skills. Zuversicht basiert nicht auf Apps und Downloads. Zuversicht lässt sich nicht digital erfassen, sie ist mehr Zwischenmenschlichkeit und weniger Technologie.

Digitalisierung als Werkzeug, Menschlichkeit als Pflicht

Technologiegläubigkeit allein ist zu wenig. Heute ist Zugang wichtiger als Besitz. Tag für Tag treffen wir auf Unternehmen wie Airbnb, Skype, Whatsapp, Facebook oder Netflix, die allesamt keine eigene Infrastruktur besitzen. Dennoch gehört ihnen in Wirklichkeit alles. Und genau das macht sie zum Vorbild für die neuen Generationen. Ich bin überzeugt, dass Zugang zu Infrastruktur extrem wichtig bleibt. Diese modernen Unternehmen sitzen ja nur gemächlich auf der Infrastruktur anderer Organisationen. Die Banking-Apps oder Fintechs, die sich die Bankeninfrastruktur zunutze machen, sind ein Beweis dafür.
Wenn wir alles digitalisieren, was digitalisiert werden kann, wird das Nicht-Digitalisierbare immer wertvoller. Unsere Hoffnung heißt: Buchladen statt Versandhandel, Face-to-face statt Facebook, Kino statt Netflix, sprechen mit Mama statt mit Alexa und denken statt nur googeln. Unsere Hoffnung heißt: mehr Mensch und weniger Maschine.
Der Mitmensch wird zum Luxus – als Arzt, Kollege, Bankberater, Verkäufer, Dienstleister, Telefonstimme, Freund, vielleicht sogar Liebhaber. Es geht nicht um die Abschaffung von Digital und zurück zu Analog. Es geht um eine humane Gesellschaft, die digital und analog ist. Ganz unternehmenspraktisch gedacht, sind hundert Prozent der Mitarbeiter Menschen, und hundert Prozent der Kunden sind auch Menschen. Man muss nur so agieren, dass man diesen Menschen gerecht wird.
Digitalisierung ist Kulturwandel, und Digitalisierung stößt an ihre Grenzen. Führungskompetenz lässt sich nicht digitalisieren.
Großartig!