Dieser Artikel beschäftigt sich mit einem Mann, der Schulden in der Höhe von 2,8 Millionen Euro hinter- lassen hat!

Krisenmanagement am unteren Ende der Welt

Sir Ernest Shackleton, ein Bankrotteur aus vergangener Zeit als Vorbild für unser aktuelles Krisenmanagement? Zugegeben. Shackleton hat 28 Männer aus dem ewigen Eis ins Leben zurückgebracht – nichts weiter.

Text: Peter P. Baumgartner
Fotos: Royal Geographical Society, Peter P. Baumgartner

Das kühnste Abenteuer des 20. Jahrhunderts

Eine Expedition bricht ins Eismeer auf. Im Sommer 1914 entschwindet sie beinahe aus der Welt, um fast hundert Jahre später in der Managementlitera- tur wieder aufzutauchen. Ihr Expediti- onsleiter, der legendäre Antarktis-For- scher Sir Ernest Shackleton, Gentleman, Charmeur und Abenteurer. Sein Cha- risma ist schon zu Lebzeiten berühmt, sein Name wird oft mit dem Attribut „mythisch“ bedacht.

An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert beherrschte die Polarfor- schung die Vorstellung der Menschen. Undenkbar sind die Bedingungen, un- ter denen sich die Akteure der Eiswüste näherten.

Die Eroberung des Nutzlosen übte magische Anziehungskraft aus. Zei- tungen und Zeitschriften verehrten englische Polarforscher als Helden. Die britische Nation litt schwer un- ter der Niederlage am Südpol, die ih- nen der Norweger Roald Amundsen im Dezember 1911 bereitet hatte. Erst 34 Tage später stand der Engländer Captain Robert Falcon Scott an der geheimnisvollen Stelle. Er ging mit seinen Männern am Rückweg in den Tod.

Besser ein lebender Esel, als ein toter Löwe

Schon bei der Discovery-Expedition von 1901 war Shackleton gemeinsam mit Captain Scott bis auf 745 Meilen an den Pol herangekommen – ein Abstand wie zwischen den Philosophien der bei- den Männer: Scott der militärische Pla- ner und Stratege, Shackleton der unge- fragte menschliche Ideengeber.

Bei der weltweit ersten privat finan- zierten Antarktisreise (Nimrod-Expedi- tion von 1907 bis 1909) war Shackleton bis auf 97 Meilen an den Pol herange- kommen, um dort den Union Jack in den Schnee zu stecken und die bedeutsamen Worte zu sprechen: „Besser eine leben- der Esel, als ein toter Löwe.“

Er kehrte mit seinen drei Begleitern im Dunstkreis des Poles um, den sie alle erreicht hätten, das rettende Ufer und ihr Schiff für die Rückreise manche von ihnen wahrscheinlich nicht mehr. Shackleton hatte es vorgezogen, mit seinen Begleitern zu überleben anstatt berühmt zu werden. Er legte damit den Grundstein für eine grandiose Schuld- nerkarriere, welche er bei der Endu- rance-Expedition fortführte.

Mit insgesamt vier Antarktisexpeditionen (die Quest-Expedition fand von 1920 bis 1922 statt) war Shackleton einer der erfahrensten Pioniere des weißen Kontinents und: der wohl am meisten verschuldete Liebhaber des ewigen Eises.

Die Endurance-Expedition, seine dritte Reise ins ewige Eis, ist der hi- storische Bezugspunkt für diesen Arti- kel. Die phänomenalste Geschichte der Antarktisforschung, an Dramatik kaum zu überbieten, machte den Fehler zum Ereignis.

Shackletons Bedeutung beruht heute vielleicht mehr auf den Fähigkeiten sei- nes Krisenmanagements als auf seinen Erfolgen als Polarforscher.

Die Endurance-Expedition

„Männer für eine waghalsige Reise gesucht. Geringe Löhne, extreme Kälte. Monatelange völlige Dunkelheit. Per- manente Gefahren, sichere Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Erfolgs-

falle.“ Mit dieser besonderen Stellenanzeige warb Shackleton für seine Unternehmung. Über 5.000 Bewerber wollten in sein Team.

Im August 1914, am Vorabend des ersten Weltkrieges, brach Shackle- ton mit einer sorgfältig ausgewählten Mannschaft von 27 Männern mit der eisgängigen Endurance von England auf. Das unerhörte Ziel war die vollständige Durchquerung des antarktischen Kontinents. Am 5. Dezember 1914 verließ die Expedition den letzten Außenpos- ten der Zivilisation, die Walfängerinsel South Georgia im Südatlantik.

Packeis voraus

Im ungewöhnlich kalten antarkti- schen Sommer blieb die Endurance im Packeis stecken. Nach langer Irrfahrt durch die Eisfelder war nur eine Ta- gesreise vor ihrem Ziel, der Vahsel Bay, Ende.

Ab Mai 1915 lief die Expedition völlig aus dem Ruder und Shackleton war in seinem Element: Eismassen zerquetschten im Oktober 1915 das stabile Schiff. Die Männer waren Schiffbrüchige in einer der unwirtlichsten und am schwersten zugänglichen Regionen der Erde. Ohne Hoffnung auf Rettung und überlebensfähig nur, solange die Vorsehung ihnen Nahrung schickte. Fünf Monate harrte die Mannschaft auf dem driftenden Eis aus. Schließlich erreichten die erschöpften Männer in ihren Rettungsbooten Elephant Island, eine unbekannte Insel, weit ab von allen Schifffahrtsrouten.

Mit fünf Männern brach Shackleton im April 1916 zu einer hochriskanten Reise nach South Georgia auf. Im größten Rettungsboot, der 7 Meter langen James Caird, war er 1.400 Kilometer unterwegs, um Hilfe zu holen. Der Ozean südlich von Kap Horn ist das stürmischste Meer der Welt mit haushohen Wogen. Aufgabe der Bootsbesatzung war es, ein winziges Fleckchen Land in einem grenzenlosen Ozean zu finden. Ihre Überlebenschance war verschwin- dend gering. Heute noch titulieren viele erfahrene Seeleute diese Tat als: „Die großartigste Bootsreise aller Zeiten“.

Das Ziel vor Augen

Anfang Mai 1916 erreichten die Männer total erschöpft South Geor- gia. Es war die falsche Seite der Insel. Die Walfangstation, die sie ansteuern wollten, lag genau gegenüber. Die sechs Seefahrer waren nach 16 Tagen am Ziel – und doch weit davon entfernt.

Mit zwei Männern durchquerte Shackleton die vergletscherte Insel, in Schuhen mit Schiffsnägeln als Steigei- senersatz. Nach 36 Stunden und einem Gewaltmarsch über unzählige Gletscher und 42 Kilometer erreichten sie die Sta- tion. Das Innere der Insel hatte noch nie ein Mensch zuvor betreten.

Nach drei fehlgeschlagenen Versu- chen gelang mit dem chilenischen Schiff Yelcho die Rettung der Mannschaft von Elephant Island. Am 30. August 1916 waren die Expeditionsmitglieder zurück in der Zivilisation. Alle Männer hatten die Strapazen der Endurance-Expedition überlebt, die 635 Tage gedauert hat.

Das Geheimnis, das zum Erfolg der Expedition geführt hat, ist Shackleton: unbestritten, vielfach bewertet, erklärt, beschrieben, verfilmt, vorgetragen. Es war seine Idee als erster Mensch die Antarktis zu Fuß zu durchqueren. 75 Jahre später hat Reinhold Messner sei- nen Plan aufgegriffen und ist mit Arved Fuchs die 2.800 Kilometer lange Strecke in 92 Tagen zum Südpol gegangen.

Shackleton ist weder der berüh- mteste noch der erfolgreichste oder bis- weilen am meisten verehrte Erforscher der Antarktis. Andererseits aber ist seine Geschichte die bemerkenswert- este von allen Expeditionen in der au- fregenden Geschichte der Antarktis. Die Mannschaft aus der weißen Hölle herauszuholen war eine Leistung, die bei der Erforschung der Polarmeere nie übertroffen worden ist.

Was lernen wir von Shackleton?

Shackleton besaß das unglaubliche Talent, in Menschen Begeisterung und Loyalität zu wecken. Er war eine positive Figur mit grenzenlosem Überlebenswil- len. Für seine Teammitglieder hatte er die Verantwortung übernommen und eine bemerkenswerte Philosophie für seine Expedition entwickelt.

Die Reise ins ewige Eis führt uns in das 21. Jahrhundert, in unser eigenes Szenario im Unternehmen. Menschen in Führungsverantwortung müssen Mut machen, wenn sie mit ihren Unternehmen an Grenzen stoßen. Gerade in ei- nem Umfeld das sich verändert und in dem Wandel die einzige Konstante zu sein scheint.

Shackleton als grandios gescheiter- ter Abenteurer und kühner Retter seiner Mannschaft ist Vorbild. Er ist geradezu ein Musterbeispiel für risikofreudiges, aber verantwortungsvolles, personen- orientiertes Management.

Selbst in Krisensituationen erkennt er Chancen, die es zu nutzen gilt. Shackleton ist der Vielfalt der Problemstellungen mit einer Vielfalt an Lösungen begegnet. Ihm ist die Rettung aus einer aussichts- losen Situation nicht im Alleingang ge- lungen. Er versammelte bei Zeiten ein hervorragendes Team um sich.

Shackleton verlangte sich selbst und seinen Männern das Äußerste ab. Im Angesicht grandiosen Scheiterns hat er seine wahre Größe bewiesen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind seine Taten unerreicht und: Er hat sein Ver- sprechen gehalten, alle lebend wieder nach Hause zu bringen.

Sir Ernest Shackleton, ein Lebensretter aus vergangener Zeit als Vorbild für unser aktuelles Krisenmanagement? Zugegeben. Shackleton hat 2,8 Millionen Euro an Schulden hinterlassen. Nichts weiter.

Shackleton selbst gab sich nie privilegiert, immer aber verantwortungs- bewusst und entscheidungsstark. Er ist bei seinen großen Reisen nie zum Ziel gekommen. Wie er aber gescheitert ist und wie er seine Leute nach Hause gerettet hat, bleibt ohne Beispiel.

Hinfallen ist keine Schande, es ist nur wichtig, wieder aufzustehen. Durch eine Kultur des Scheiterns gehen wir gelassener mit Niederlagen um. Das Wiederaufstehen gehört zu den größten Tugenden, das Gelernthaben, das Reifen. Dazu müssen Manager Mut machen.

Zudem brachte Shackleton eine bis dahin unbekannte menschliche Dimension in die Polarexpeditionen ein: Nach einer Niederlage setzte er sich sofort neue Ziele und warf im Krisenmanagement sein eigenes Leben in die Waagschale.

Wenn man ihm, gewiss auch etwas entmythifizierend, etwas vorwerfen darf, dann genau das, was heutige Führungspersönlichkeiten ihren Mitarbeiter und/oder auch sich selbst vielleicht manchmal vorwerfen dürfen: eine mangelnde Lebens-Arbeits-Balance. Mehr oder weniger.

Die Wahrheit ist ja ohnehin kein Kompromiss. Und wenn es uns gelingt, die Worte „Vom Wissen zum Können“ in den Alltag zu integrieren, dann sind wir ein Stück in die korrekte Richtung gegangen. Denn: „Wir sind nicht alle gleich. Man muss nicht alles wissen. Aber man sollte etwas können.“

Shackletons Führungskunst

Shackleton haftet ein besonderes Charisma an. Auch heute haben erfolgreiche und beliebte Menschen das gewisse Etwas. Sie verfügen über eine Bandbreite unterschied- lichster Fähigkeiten, welche über profan fachliches Wissen hinausgehen. Sie sind auf der emotionalen und kommunikativen Ebene angesiedelt und maßgeblich am Erfolg beteiligt.

Der Fortschritt des Wissens über diese sogenannten weichen Fähigkeiten von Füh- rungspersönlichkeiten ist rasant, die praktische Anwendung dieser Kompetenzen dagegen träge. Wertschätzung und Authentizität sind in der Geschäftswelt von heute kritische Erfolgsmomente. Wer andere Personen nicht auch menschlich überzeugen und begeistern kann, dem nützen die besten Fachkenntnisse wenig. Immer mehr Unterneh- men erfassen die Bedeutung und rufen nach diesen Befähigungen. Und das zu Recht. Führungsqualität ist kein Zufall. Verabschieden wir uns von Gedanken, die das in Frage stellen. Je eher, desto besser. Hingegen sollten wir Fragen stellen und in Frage stellen, ob wir uns in unserer Führungsaufgabe auf einem qualitätsvollen Weg befinden – und das täglich neu.

Die Bedeutung von Führungskunst heute? Idealerweise verstehen wir heute darunter die Weitsicht bei der Ausrichtung eines Unternehmens. Dabei sind unter anderem Kreativität, Vorbildwirkung und Nähe zu den Mitarbeitern, die von einer Führungsper- son geforderten Eigenschaften. Führungsqualität wird sichtbar, wenn wir die Herzen der Mitarbeiter erreichen. Führungskunst schafft es, den Bedürfnissen des Unternehmens und denen der Menschen gerecht zu werden. Führungspersonen gehen den gleichen Weg wie ihre Mitarbeiter, nur gehen sie eben voran.

Die Beantwortung weniger, zentraler Fragen ist dazu hilfreich. Was können Sie tun, damit Ihre Mitarbeiter Verantwortung übernehmen? Wie setzen Sie das Potential Ihrer Mitarbeiter frei? Wie schaffen Sie ein Unternehmen, in das die Mitarbeiter morgens gerne kommen? Die einzige Führungskompetenz, die wirklich zählt, ist die, die Ihnen Ihre Leute freiwillig und mit vollem Bewusstsein einräumen. Shackletons Männer machten genau das.

Sie müssen kein Manager sein, um Shackleton zu mögen

Für Ziele, die Sie nie zuvor erreicht haben, müssen Sie Dinge tun, die Sie nie zuvor getan haben.

Der Name Ernest Shackleton wird im- mer über die Welt der Polarforscher hinaus leuchten. Er gibt den Menschen eine Ahnung davon, wozu der Mensch fähig ist.

Der Mythos Shackleton hängt viel- leicht nicht unmittelbar mit unserem eigenen Erfolg zusammen, vermutlich aber doch. Und wenn, dann sollten wir den Versuch wagen, nach den Worten seiner Zeitgenossen, Shackleton für unsere Zukunft ein Mandat zu erteilen: „Gebt mir Scott als wissenschaftlichen Expeditionsleiter, gebt mir Amundsen für eine schnelle und perfekte Reise, aber wenn sich das Schicksal gegen euch verschworen zu haben scheint, und ihr euch in einer hoffnungslosen Situation befindet, dann fallt auf die Knie und betet um Shackleton.“

Nähe und Wertschätzung

Der Führungsverantwortliche wohnt bei einer Expedition nicht im größten Zelt. Der Konzernchef sitzt nicht im obersten Stockwerk. Er ist einer unter vielen. Seine Stimme aber bewirkt mehr.

Mitarbeiter sollen die Möglichkeit haben, mit jedem über alles zu reden, ohne Be- rührungsängste. Was tun Sie, um Ihren Mitarbeitern nahe zu sein? Es ist relativ einfach. Um ein ausnehmend erfolgrei- cher Mensch in einer Führungsposition zu sein, tun Sie mehr als nur das, was von Ihnen erwartet wird.

Shackleton hielt auf seinen Reisen nichts von strenger Klassentrennung. Er führte Mitarbeiter auf gleicher Augenhöhe. Da- mit unterschied er sich von vielen seiner

Zeitgenossen, von vielen Menschen, die aktuell Führungsverantwortung tra- gen. Schon damals vereinte Shackleton die besten Führungsqualitäten in sich: Die Kunst sich geschickt an die immer schnellere Entwicklung anzupassen. Jeden Expeditionsteilnehmer seine Wertschätzung spüren zu lassen. Seine Geschichte sollte uns inspirieren, Ziele zu erreichen und Stärken der Menschen entwickeln lassen, von denen sie gar nicht wussten, dass sie sie besitzen. Damit wir alle gemeinsam für etwas arbeiten, das größer ist als wir selbst. Führen heißt, Leben in Menschen wecken, Leben aus ihnen hervorlocken. Bevor wir andere führen, müssen wir uns

selbst führen können. Führen bedeutet, immer wieder fragen, ob das Unter- nehmen am Puls der Zeit ist, ob es den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird und ob es die Ressourcen der eigenen Mitarbeiter genügend ausschöpft. Shackleton engagierte insbesondere auch Teilnehmer, die über größere Fähigkeiten verfügten als er selbst. Eine wesentliche Eigenschaft sehr guter Führungspersönlichkeiten ist die Neigung, sich mit Mitarbeitern zu umgeben, die besser und schlauer sind als sie selbst. Alles was Manager brauchen sind gute Leute, wirklich gute Leute.